Lieber Erdling,
oje, oje! Ich hoffe, Du hast bessere Laune als Rudi. Er versucht verzweifelt die Knobelaufgabe des letzten Quirkblattes zu lösen. Und die geht so:
Kann man ein 8 x 8-Schachbrett, bei dem zwei diagonal gegenüber liegende Eckfelder entfernt wurden, mit 31 Dominosteinen überdecken? Jeder Dominostein ist dabei so groß wie 1 x 2 Schachbrettfelder.
Rudi hat sich gleich aus Pappe ein Schachbrett und 31 passende Dominosteine gebastelt und natürlich auch zwei diagonal gegenüber liegende Eckfelder entfernt. Das sah dann ungefähr so aus:

Ja, Rudi liebt das Gelb der Blumen auf unserer Wiese, von daher hat er sich ein schwarzgelbes Brett gebastelt. Und nun probiert er verzweifelt, mit den Dominosteinen das Schachbrett zu überdecken. Aber es will ihm einfach nicht gelingen.
Da meine ich zu ihm: „Vielleicht geht das ja gar nicht?!“ Er schaut mich ein wenig traurig an und antwortet: „Oder ich habe vielleicht die Lösung noch nicht gefunden.“ Tja, genau darin unterscheiden sich Mathematiker von Naturwissenschaftlern!
Naturwissenschaftler beobachten, stellen Theorien auf und machen viele Experimente, um ihre Theorien zu untermauern. Aber so viele Beobachtungen und Experimente sie auch machen, sie können sich doch nie vollkommen sicher sein, dass die nächste Beobachtung, das nächste Experiment nicht vielleicht doch der Theorie widerspricht. Genau das hatte Rudi bisher getan. Er hat jetzt schon Hunderte, wenn nicht gar Tausende Möglichkeiten probiert und keine hat geklappt. Je mehr Möglichkeiten er probiert, um so mehr kann er sich in seiner (naja, eher meiner) Vermutung sicher sein, dass es gar nicht geht. Aber er kann sich eben nicht absolut sicher sein! Das könnte er nur, wenn er wirklich alle Möglichkeiten durchprobiert hätte. Naja, das würde Rudi hier auf Pirk zwar keine Zeit kosten, da wir hier ja keine Zeit haben, aber trotzdem wäre das für Rudi sicherlich nicht wirklich lustig.
Im Gegensatz zu Naturwissenschaftlern glauben Mathematiker eine Aussage erst dann, wenn sie eine Begründung für diese Aussage bekommen oder selbst gefunden haben, die so klar und unumstößlich ist, dass daran einfach nicht mehr zu rütteln ist. Mathematiker nennen solch eine Begründung einen Beweis. Bei unserem Schachbrettproblem wäre solch ein Beweis eine Begründung, warum es einfach keine gewünschte Überdeckung des Schachbretts mit Dominosteinen geben kann. Egal wie man dies versuchen würde. Mit solch einem Argument könnten wir uns dann sicher sein, dass nie, wirklich niemals, jemand kommen kann und doch eine Überdeckung präsentiert und unsere Aussage widerlegt. Wir können uns dann also entspannt zurücklehnen. Und wenn dieser Beweis zudem noch kurz und elegant einfach ist, dann ist das noch viel spaßiger. Glaub mir!
Ja, Du hast Dich nicht verlesen! Mathematik kann richtig Spaß machen! Ich weiß, das glaubst Du mir vielleicht gerade nicht, weil Du bisher unter Mathematik nur langweiliges Rechnen und Formeln auswendig Lernen verstehst. Zusammenhangslos und ohne einen Plan, wozu das gut sein soll. Aber es stimmt! Mathematik ist nicht nur wildes Rumrechnen, auch wenn es da echt coole Rechentricks gibt, mit denen man andere Leute beeindrucken kann. Ein paar wenige davon habe ich Dir ja schon geschrieben. Mathematik ist viel mehr! Ich hoffe, ich kann Dir in meinen Briefen so nach und nach die Schönheit und den Spaß vermitteln, die in der Mathematik stecken.
Aber nun zurück zu unserem Schachbrettproblem. Was könnte ein klar nachvollziehbarer Grund sein, warum sich das Schachbrett ohne die beiden Eckfelder nicht mit Dominosteinen überdecken lässt? Rudi und ich starren gebannt auf Schachbrett und Dominosteine und hoffen, dass uns etwas auffällt.

Nichts. Gar nichts. Siehst Du vielleicht etwas? Rudi und ich starren auf die Bilder und sehen gefühlte Ewigkeiten absolut nichts. Doch plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen! Natürlich! Egal, wie wir die Dominosteine auf das Brett legen, wird jeder Dominostein genau ein schwarzes und ein gelbes Feld des Schachbretts überdecken.

Wenn wir Rudis Brett mit den 31 Dominosteinen überdecken könnten, würden wir also genau 31 schwarze und 31 gelbe Felder überdecken. Allerdings hatte Rudi zwei gegenüberliegende Ecken des 8 x 8-Schachbrettes herausgeschnitten. Und diese waren beide gelb! Damit hat das verbliebene Brett 32 schwarze aber nur 30 gelbe Felder. Rudi kann sich also anstrengen, wie er will. Es geht nicht! Man kann das Brett nicht mit den 31 Dominosteinen überdecken! Rudi kann das nicht. Ich kann das nicht. Du kannst das nicht. Niemand kann das! Unser einfaches Zählargument hat dies für immer und ewig bewiesen.
Sehr gut! Dann lehnen sich Rudi und ich nun entspannt zurück und genießen das schöne Gefühl, etwas für immer und ewig bewiesen zu haben. Und niemand, absolut niemand, wird unsere Aussage jemals widerlegen können.
Fühl Dich lieb gegrüßt
Deine 3,7
PS: Achja, Mathematiker sind übrigens ein echt komisches Völkchen. Sie können nämlich sogar beweisen, dass sie nicht alles beweisen können! Hihi. Allerdings hat dieser Beweis des Erdlings Kurt Friedrich Gödel anfangs des 20. Jahrhunderts viele Mathematiker echt erschüttert. „Wie jetzt?! Es gibt Aussagen, da kann ich mich auf den Kopf stellen und zaubern und finde trotzdem keinen Beweis, dass diese Aussagen stimmen?“ Genau. So ist es nun einmal. Niemand ist perfekt. Auch nicht Mathematiker. Doch diese können das eben sogar beweisen!