Lieber Erdling,
na, scheint bei Dir auch gerade die Sonne? Bei uns ja. Aber Rudi ist total genervt. Er muss nämlich endlich mal wieder sein Zimmer aufräumen. Überall im Zimmer liegen seine Socken herum! Rote, grüne, gelbe und blaue. Was für ein Chaos!
Oh, Rudi ist schon fertig! Wow. Das ging aber diesmal schnell. (Nun gut, da es hier ja keine Zeit gibt, ging es nur gefühlt schnell.) Breit grinsend fliegt er an mir vorbei in den Garten zum Spielen. Na, da bin ich doch mal neugierig und schau in sein Zimmer. Boah! Keine einzige Socke ist mehr zu sehen! Respekt, Rudi! Halt! Aus dem Wäschekorb sehe ich eine Socke hervor lunzen. Der wird doch nicht…tatsächlich! Rudi hat alle Socken einfach bunt gemixt in seinen Wäschekorb geworfen. So ein Schlingel! Na warte, du kleiner Schelm! Das nächste Mal darfst du Deine Socken im Dunkeln aus dem Korb holen. Viel Spaß dabei, zwei gleichfarbige Socken zu finden! Hihi. Tja, ein wenig Ordnung kann nicht schaden, stimmt’s?!
Hmm, da stellt sich mir doch die Frage, wie viele Socken Rudi im Dunkeln aus dem Korb nehmen muss, um sicher zwei gleichfarbige Socken dabei zu haben? Nimmt er nur zwei, dann muss er schon sehr viel Glück haben, dass dies zwei rote, zwei grüne, zwei gelbe oder zwei blaue Socken sind. Nimmt er gleich drei oder gar vier Socken, dann stehen seine Chancen schon besser, dass davon zwei die gleiche Farbe haben und er sie anziehen kann. Aber auch wenn er vier Socken zieht, könnte er natürlich auch Pech haben und er erwischt genau eine Socke jeder Farbe. Er sollte also mindestens fünf Socken im Dunkeln aus dem Korb ziehen. Dann hat er aber auch ganz sicher mindestens ein Paar gleichfarbige Socken dabei. (Mit Glück vielleicht ja auch zwei Paar.) Hör mal kurz auf mit Lesen und überlege Dir, warum er immer ein Paar gleichfarbiger Socken haben muss, wenn er fünf Socken zieht, die eine der vier Farben Rot, Grün, Gelb und Blau haben!
Na, hast Du eine Begründung, einen Beweis, gefunden? Was?! Das ist doch offensichtlich?! Naja, wenn man den Grund einmal gesehen hat, dann ist er wirklich recht einfach. Es handelt sich hierbei um das sogenannte Schubfachprinzip. Das Prinzip hat angeblich schon der Mathematiker Johann Peter Gustav Lejeune Dirichlet benutzt, der im 19. Jahrhundert auf Deinem Planeten lebte. (Du siehst, Rudis Sockenproblem ist nicht wirklich neu.) Das Prinzip geht so:
Wenn man Socken in Schubfächer tun möchte und man hat mehr Socken als Schubfächer, dann gibt es ein Schubfach, in dem mindestens zwei Socken landen.
Das ist ja nun wirklich offensichtlich und lässt sich ganz einfach beweisen: Wenn ich in jedes Schubfach höchstens eine Socke packe, dann würde ich ja höchstens so viele Socken wegpacken, wie ich Schubfächer habe. Ich habe aber mehr Socken als Schubfächer. Also muss in einem Schubfach mehr als eine Socke landen. Was zu beweisen war! (Erinnerst Du Dich noch, wie Mathematiker das abkürzen?! Genau! Mit „w.z.b.w.“ oder hochtrabender mit „q.e.d.“ für die lateinische Übersetzung „quod erat demonstrandum“.)
Das Prinzip funktioniert natürlich auch, wenn man andere Sachen auf die Schubfächer verteilen möchte: Kaugummis, Handschuhe, Bleistifte…such es Dir aus! Das große Problem ist oft, herauszufinden, was die Schubfächer sind und welche Dinge man auf die Schubfächer verteilen möchte. Im obigen Beispiel mit Rudis Socken hatten wir 4 Schubfächer, die wir mit „Rot“, „Grün“, „Gelb“ und „Blau“ beschriften könnten. Wenn wir anschließend 5 Socken entsprechend ihrer Farbe den Schubfächern zuordnen, dann gibt es also ein Schubfach, das zwei Socken enthält. Und weil wir die Socken entsprechend ihrer Farbe auf die Schubfächer verteilt haben, haben diese beiden Socken die gleiche Farbe! q.e.d.
Ähnlich können wir auch zeigen, dass unter drei Erdlingen mindestens zwei das gleiche Geschlecht haben. Hier tragen die beiden Schubfächer die Bezeichnungen „männlich“ und „weiblich“ und wir tun diesmal ganze Erdlinge entsprechend ihres Geschlechts in diese beiden Schubfächer. Ganz klar, eines der beiden Schubfächer enthält dann mindestens zwei Erdlinge, die damit auch das gleiche Geschlecht haben.
Gut, das ist noch nicht wirklich beeindruckend. Aber mit dem gleichen Prinzip kann man zeigen, dass es zum Beispiel in einer irdischen Großstadt wie München oder Berlin oder New York zwei Erdlinge gibt, die exakt die gleiche Anzahl an Haaren auf dem Kopf haben! Das glaubst Du nicht?! Na denn: Kein Erdling hat 1.000.000 (eine Million) Haare auf dem Kopf. (Es sind eher maximal so um die 300.000.) In München leben aber weit mehr als eine Million Erdlinge. Wenn wir jetzt eine Million (!) Schubfächer mit 0, 1, …, 999.999 beschriften und dann die Einwohner von München nach ihrer Haaranzahl auf diese Schubfächer verteilen, dann landen in mindestens einem Schubfach mindestens zwei Münchner…mit der gleichen Anzahl an Haaren auf dem Kopf! Offensichtlich, oder?! q.e.d.
Ja, klar, das wäre natürlich ein enormer Aufwand, all diese Haare zu zählen! Aber das müssen wir gar nicht! Allein unser Gedanken-Experiment genügt, um zu wissen, dass es zwei solche Erdlinge mit gleicher Haaranzahl in München geben muss. Wir wissen natürlich nicht, wer genau zwei solche Personen sind. Dazu müssten wir wohl sehr viele Haare zählen. Genauso wenig wissen wir, welche zwei der fünf Socken, die Rudi aus seinem Korb zieht, die gleiche Farbe haben werden und welche Farbe dies sein wird. Wir haben lediglich die Existenz solcher speziellen Socken beziehungsweise Erdlinge bewiesen. Deswegen nennen Mathematiker das auch einen Existenzbeweis. Genau wie bei dem Treffpunkt des Wanderers in meinem letzten Brief. Wir haben gezeigt, dass es einen Zeitpunkt gab, an dem der Wanderer an beiden Tagen am gleichen Punkt am Berg war. Aber wir wissen nicht, wann und wo genau das war. Nur dass dieser Zeitpunkt und der Treffpunkt existieren muss. Das war also auch ein Existenzbeweis.
Ich denke, also bin ich…müde. Gähn.
Gute Nacht und bis demnächst
Deine 3,7
PS: Weißt Du, wie viele Socken Rudi letztlich im Dunkeln aus dem Korb genommen hat? Nur zwei! Eine rote und eine blaue. Die hat er dann angezogen und ist grinsend davongeflogen. Frechdachs!